Dem Himmel so nah - ein Kunstprojekt der Superlative
Das grosse Format reizte den deutschen Künstler Klaus Dauven schon immer. Nun zaubert er in Frankreich eine Waldsilhouette auf ein gigantisches Stauwerk, das vom französischen Energieunternehmen Électricité de France betrieben wird. Doch statt mit Pinsel und Farbe entstehen seine Kunstwerke durch das Abtragen von Schichten aus Algen und Moosen, geschaffen durch die Natur selbst: die perfekte Mischung aus Abenteuerlust, Fantasie und technischer Präzision.
Ein Künstler mit einer besonderen Verbindung zu Frankreich
Kleine schwarze Punkte hangeln sich geschickt an der gigantischen Betonwand hin und her. Dahinter schimmert, eingerahmt von Bergen, ein türkisfarbener See. Am Fusse der 103 Meter hohen Staumauer erstreckt sich das sattgrüne Tal. Für den Künstler Klaus Dauven erfüllt sich in diesen Tagen hier, am Barrage de Vouglans, ein lang gehegter Traum.
Zu Frankreich hat der gebürtige Dürener eine besondere Beziehung. Das Land bereiste er als Lehrer viele Male mit seinen Schülern. In der französischen Sprache und Kultur ist er zu Hause und jetzt kann er endlich auch sein künstlerisches Talent in seinem Herzensland zeigen – und das im XXL-Format. Denn inmitten der atemberaubenden Gebirgsregion des Jura entsteht in wochenlanger harter Arbeit ein monumentales Werk, ein Projekt der Superlative. Im Zusammenspiel mit der Natur, der Umgebung und der Witterung. „Gerade mussten wir einen Tag pausieren, denn es hat aus Eimern geschüttet. Unmöglich, dass sich die Männer dann in die Tiefe abseilen“, berichtet Klaus Dauven. Und tatsächlich: Beim Näherkommen nehmen die schwarzen Punkte Gestalt an, und nun sind auch die roten und weissen Seile erkennbar, an denen die zwei Kletterer in schwindelerregender Höhe hängen.
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2'500 Klebepunkte dienen als Orientierungshilfe
Sie kleben mit biologisch abbaubarer Knetmasse rund 2'500 winzige rote und gelbe Punkte an die 427 Meter lange und 103 Meter hohe Wand, nach den zentimetergenauen Anweisungen zweier Vermessungstechniker, die zwischen Büschen und Bäumen gegenüber des Damms ihre Messgeräte bedienen. Über Funk geben sie den Kletterern Instruktionen: „Mit dem Finger noch 10 Zentimeter nach rechts, noch 20 Zentimeter nach oben!“ Dann klebt die nächste Markierung aus biologisch abbaubarer Knetmasse. Eine Präzisionsarbeit, aus der später nach dem Prinzip „Malen nach Zahlen“ der Umriss von Dauvens erdachter Waldsilhouette entsteht. Sie trägt den Titel „La forêt“. Doch statt Farbe sind es die witterungsbedingten Ablagerungen im unteren Teil des Damms, die dem Werk ihre Kontur geben werden. Um die Punkte herum wird der Beton Zentimeter für Zentimeter mit dem Kärcher Hochdruckreiniger gesäubert, sodass ein Kontrast zwischen Beton und der Patina zum Vorschein kommt, der schwärzlichen, natürlich entstandenen Schicht aus Algen und Moosen.
Ein genialer Zufall
„Reverse Graffiti“ taufte man dieses Prinzip, als dessen Erfinder Klaus Dauven gilt. Dabei kommt er keineswegs aus der Graffitiszene, sondern hat in Düsseldorf und Münster an der Kunstakademie studiert. Als Zeichner interessierte ihn schon immer das grosse Format. Er begann zunächst mit Kohlezeichnungen, einem Material, mit dem er auch seine rheinische Herkunft verbindet. „Eines Tages, ich wollte nur die Kohlestaubreste eines Werkes entfernen, merkte ich, da passiert etwas Besonderes, wenn ich das Papier mit dem Staubsauger bearbeite. Durch das Wischen und Wegnehmen entsteht eine ganz eigene Ästhetik. Eigentlich war es einem Zufall geschuldet, dass ich dieses Prinzip 1997 für mich entdeckte“, erzählt er. Ein Zufall, der sein weiteres Leben verändern sollte. Mit eigens angefertigten, rautenförmigen Düsen verfeinerte er seine Technik. Aus den geometrischen Formen entstanden Häusergebilde, Umrisse von Fabriken und urbane Kulissen. Wenig später arbeitete Dauven immer öfter auch draussen. Er suchte Orte, an denen er, genau wie im Atelier, mit Oberfläche, Licht und Schatten spielen konnte. Zum Abtragen nutzte er bald nicht mehr nur eine Drahtbürste, sondern auch den kraftvolleren Wasserstrahl. Ob Autobahnbrücken, ein Getreidesilo oder Staudämme wie in Japan und Korea, immer geht es ihm darum, die Umgebung des Werkes bei der Konzeption mitzudenken.
Abenteuerlust und Know-how
Dabei reicht die Bandbreite seiner Motive von Pflanzen und Tieren bis zu Gesichtern, die immer auch eine Geschichte erzählen. So wie in Bamberg, wo Dauven Porträts junger Menschen mit unterschiedlicher Herkunft auf einer Brücke erschuf, ein Plädoyer für eine tolerante, offene Gesellschaft. Oder in der südfranzösischen Hafenstadt Sète. Als Vorlage dienten hier alte Fotos von Seefahrern und Fischern aus der Region. Gemeinsame Projekte haben Dauven und Kärcher schon viele zusammen umgesetzt, doch noch nie waren die technischen Anforderungen so hoch wie bei der neuesten Aktion. Es gelten höchste Sicherheitsstandards für sein deutsch-französisches Team aus Vermessern und Industriekletterern: „Mir gefällt dieses demokratische Prinzip meiner künstlerischen Leitung. Ich arbeite mit Spezialisten zusammen, die aber keine Künstler sind. Hier treffen Technik und Kreativität aufeinander.“ Die körperliche Herausforderung, gepaart mit Abenteuerlust und Know-how, das schweisst das Team zusammen. Denn jeder Handgriff, jeder Knoten muss sitzen, wenn zunächst die Verankerungen oben auf der Mauer befestigt werden, von denen jeweils zwei Seile im Abstand von fünf Metern in die Tiefe gelassen werden. Über Wochen hat das Team das Vorhaben minutiös geplant und das Equipment gecheckt, doch vor Ort warten jeden Tag neue, unerwartete Schwierigkeiten, für die Lösungen gefunden werden müssen.
Vergängliche Kunst
Das Besondere an Dauvens Kunst ist ihre Vergänglichkeit. Denn während andere Künstler ihr Können verewigen wollen, spielt Dauven gerade mit der Flüchtigkeit seines Schaffens. Wie lange seine Abtragungen sichtbar sein werden, entscheiden am Ende die Witterung, die Neigung der Wand, die Umgebungstemperatur, die Sonneneinstrahlung. Sicher ist nur: Mit der Zeit werden die Werke verschwinden. Und noch etwas macht sie besonders: Nicht Museumsbesucher, sondern Wanderer, Urlauber oder Passanten werden ungefragt zu Betrachtern. Klaus Dauven gefällt die Vorstellung dieser zufälligen Begegnung mit seiner Kunst, so wie er sie selbst erlebt hat. Als einen magischen Glücksfall.
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